Neues denken und wagen

Zu Mobilitäts-Zukunftskonzepten und den Chancen für die sächsische Automotive-Branche diskutierten die Teilnehmer des 2. Industriedialogs Neue Mobilität Sachsen, der situationsbedingt online stattfand.
Zu Mobilitäts-Zukunftskonzepten und den Chancen für die sächsische Automotive-Branche diskutierten die Teilnehmer des 2. Industriedialogs Neue Mobilität Sachsen, der situationsbedingt online stattfand. (Foto: www.siemens.com/presse, Montage: Marketingagentur Reichel)
31.05.2021 | Redaktion Autoland

Mobilität wird hierzulande immer noch hauptsächlich vom Fahrzeug aus gesehen. Anforderungen wie Klimaschutz und Ressourceneffizienz zwingen dazu, das Thema mehr vom Markt, von den Nutzern her zu denken und dabei auch geografische Grenzen zu überwinden. Das war ein Tenor des 2. Industriedialogs Neue Mobilität Sachsen, den die Sächsische Energieagentur SAENA am 27. Mai 2021 virtuell veranstaltete. Unter dem Motto „Neues denken & wagen“ versprach er neue Blickwinkel und Perspektiven – und hat diese Zusicherung auch gehalten. Mehr als 110 Teilnehmer folgten jeweils den verschiedenen Sessions der Ganztagsveranstaltung.

Technologisch hat Sachsen alle Chancen, die im Gange befindliche Transformation der Mobilitätsbranche in führender Position mitzugestalten. Es ist nicht die Frage, ob das gelingt, sondern auf welchen Wegen und wie schnell, betonte Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig in seinem Begrüßungsstatement. Aspekte wie eine Energieversorgung aus eigenen Quellen, ein energie- und materialeffizientes Wirtschaften mit begrenzten Ressourcen wie Rohstoffen oder auch öffentlicher Raum sowie intelligente verknüpfte Systeme bieten viele Chancen, mit neuen Mobilitätsansätzen die Lebensqualität sowohl in der Stadt als auch auf dem Land zu erhöhen und Geschäft für die Industrie zu generieren. Auf diese Vielfalt, die in Deutschland leider noch zu oft als Problem behandelt werde, wies SAENA-Geschäftsführer Dr. Tilman Werner hin.

Dass sich die Automotive-Branche in Sachsen mittendrin im Strukturwandel befinde, zeigte AMZ-Netzwerkmanager Dirk Vogel auf. Laut Analyse des Zuliefernetzwerks sind etwa 2000 Mitarbeiter von Werksschließungen und ca. 1200 von Firmenverkäufen betroffen. Das bedeute nicht zwangsläufig Arbeitsplatzverlust und sei auch nicht ausschließlich auf den Hochlauf der E-Mobilitäts-Produktion zurückzuführen, so Vogel. Aktuell erfolge ein massiver Umbau, aber kein Kahlschlag. Der AMZ-Netzwerkmanager benannte mit Wasserstofftechnologien, automatisiertem und vernetztem Fahren sowie Software wesentliche Wachstumsfelder, von denen Zulieferer im Transformationsprozess profitieren können. Vor allem Brennstoffzellentechnologien bieten über das Auto hinaus viele Ansatzpunkte für Metallbearbeiter, die bisher hauptsächlich im Verbrenner-Segment tätig sind. Diese Themen wurden in den Sessions am Nachmittag vertieft.

Innovation muss auch Scheitern zulassen

Vorher sprach Dr. Hendrik Schulze vom SpinLab HHL über Innovation und die Kultur des Scheiterns. Der Startup-Coach, der selbst vier Unternehmen gegründet und davon drei bereits wieder verkauft hat, sensibilisierte dafür, Fehler zuzulassen, um zu neuen disruptiven Entwicklungen zu kommen. Ohne Risiko keine Innovation, so sein Standpunkt. Vorbild seien hier die USA, wo ein solches Denken fest in der Startup-Kultur verwurzelt ist. Für deutsche Startups ist nach seiner Meinung nicht fehlendes Geld Thema Nummer 1, sondern die Bürokratie. Einen Schutzraum für Gründer zu schaffen, nütze diesen anfangs deutlich mehr als Risikokapital.

Sächsische Zellfertigung ist möglich und gewollt

Wie junge und gestandene Unternehmen sowie Forschungseinrichtungen Ideen zu neuen Produkten und Leistungen vorantreiben, wurde in den Sessions „Geschäftsmodelle rund ums Fahrzeug“, „Batteriebetriebene Fahrzeuge“, „Wasserstoffbetriebene Fahrzeuge“ sowie „Autonome und vernetzte Fahrzeuge“ deutlich. So deckt das Fraunhofer IKTS bei der Forschung rund um die Lithium-Ionen-Batterie die komplette Kette ab – von der Aufbereitung der keramischen Ausgangsmaterialien bis hin zum Batterierecycling, wie Institutsdirektor Prof. Alexander Michaelis erläuterte. Deutsche Ingenieurskunst und estnische IT vereinen sich bei Skeleton Technologies in Großröhrsdorf bei Dresden zu den derzeit besten Ultrakondensatoren am Markt, betonte CTO Dr. Daniel Weingarth. Diese physikalischen Energiespeicher zeichnen sich durch hohe Leistungsdichte, schnelles Laden und lange Lebensdauer aus und bilden eine ideale Ergänzung zu den chemischen Lithium-Ionen-Batterien. In Sachsen baut das estnische Unternehmen die Produktion von Zellen, Modulen und Systemen aus. Auch Elektroden-Entwicklungsaktivitäten sind hier konzentriert. Neue Ansätze für das Batterierecycling verfolgt Liofit aus Kamenz. Das Unternehmen arbeitet daran, das bisher übliche Hochtemperaturverfahren durch eine mechanische Technologie zu ersetzen. Damit können 90 Prozent mehr der eingesetzten Materialien wiedergewonnen und für eine erneute Akkuproduktion eingesetzt werden, informierte Geschäftsführer Dr. Ralf Günther. Liofit besitzt darüber hinaus Kompetenzen für Elektronik und Batteriedesign.

Angesichts dieser und weiterer Aktivitäten in Sachsen, u. a. durch das schweizerische Technologieunternehmen Blackstone, das in Döbeln an 3D-gedruckten Lithium-Ionen-Zellen arbeitet, bestünden begründete Chancen für den Aufbau einer Zellfertigung vor Ort, waren sich Referenten und Teilnehmer einig.

Autonom und vernetzt über Grenzen fahren

Mobilität, die dank Automatisierung und Vernetzung zukünftig auch für Menschen mit alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen leichter oder überhaupt erst zugänglich werden soll, braucht neben technologischen Lösungen unternehmens-, branchen- und länderübergreifendes Agieren. Darauf machten Sören Claus vom Smart Rail Connectivity Campus SRCC Annaberg-Buchholz und Karsten Schulze von FDTech Chemnitz aufmerksam. Auf dem SRCC wird – verkürzt gesagt – der automatisierte Zugverkehr erprobt. Aktuell sind dafür mehr als 150 Partner aus Industrie und Forschung unterwegs. Die 110 FDTech-Mitarbeiter sind Spezialisten für die Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen auf der Straße. Der Wandel zu neuen Mobilitätssystemen, bei dem das Fahrzeug nur noch ein Bestandteil und Mittel zum Zweck ist, braucht neben Technologie genauso Kooperation. FDTech ist deshalb einer von fünf Partnern in der Chemnitz Automated Driving Alliance CADA, die sich bei der Entwicklung des automatisierten Fahrens mit ihren Leistungen ergänzen. Weil Autos auch über Ländergrenzen fahren, forderte FDTech-Chef Karsten Schulze dringend eine auf europäischer Ebene harmonisierte Gesetzgebung für die Zukunftstechnologie. Zugleich regte er an, das Mobilitäts-Ökosystem Sachsen-Böhmen zwischen Leipzig und Prag als Flächenregion zu gestalten, in der die verschiedenen Bausteine wie Individualverkehr, Bahn und ÖPNV zusammengeführt werden. Damit könne ein EU-Referenzraum entstehen, denn neue Konzepte werden nicht nur für Megacities gebraucht, so Schulze.

Drucken statt montieren

Um Mobilität intelligenter zu gestalten, brauchen Fahrzeuge sichere leistungsfähige Vernetzungstechnik. Bereits heute sind rund 100 Sensoren, 30 Steuergeräte sowie drei Kilometer Kabel im Auto verbaut. Zukünftig werden sich diese Zahlen mindestens verdoppeln und das Gewicht von Leitungssträngen von etwa 60 auf 100 Kilogramm erhöhen. Hinzu kommt ein weiter steigender Montageaufwand, denn Kabelbäume werden nach wie vor hauptsächlich manuell gefertigt. Digital gesteuerte hochautomatisierte Produktion statt anstrengender Handarbeit heißt hier die Lösung, die Dr. Ralf Zichner vom Fraunhofer ENAS vorstellte. Kern des Verfahrens sind robotergesteuerte Drucktechnologien. Damit lassen sich Leiterbahnen, Heizstrukturen, Sensoren, Antennen und viele weitere Elemente schneller und gewichtsoptimiert herstellen.

In den weiteren Sessions wurden die sächsischen Kompetenzen für Wasserstoff- und Brennstofftechnologien sowie für neue Geschäftsmodelle, u. a. mittels Blockchain, thematisiert.

Die vielen Kompetenzen sichtbarer machen

Angesichts der vielen Chancen, die sich im Mobilitäts-Transformationsprozess eröffnen, nicht in Selbstzufriedenheit abgleiten, sondern noch „einen Zahn zuzulegen“, forderte Minister Dulig die Teilnehmer auf. Dr. Tilman Werner und Dirk Vogel warben zum Abschluss der Veranstaltung für die weitere Vernetzung der Akteure in Sachsen – auch, um deren Kompetenzen noch sichtbarer zu machen und damit das Image der Region deutlicher nach außen zu bringen. Zukunftsweisende Technologien müssen ebenso vermarktet werden, damit sich Geschäftserfolg einstellt und potenziert.

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