Kolloquium in der Kugel – eine runde Sache

Kolloquium in der Kugel – eine runde Sache
Inspirierender Tagungsort für das 6. Interdisziplinäre Fahrzeugkolloquium war die Niemeyer Sphere in Leipzig. Die Event-Kugel hat der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer im Alter von 102 Jahren entworfen. Foto: Ina Reichel
09.06.2022 | Redaktion Autoland

Ob Pkw, Camper, Zug, Schiff oder Flugzeug – die Anforderungen an die Innenräume verschiedener Verkehrsmittel ähneln sich in vielen Punkten. Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede bei Materialien und Verfahren diskutierten die Teilnehmer des 6. Interdisziplinären Fahrzeugkolloquiums am 7. Juni 2022 in Leipzig.

Für erste Inspirationen sorgte bereits der Ort. Die Veranstalter Wirtschaftsförderung Sachsen und Institut für Holztechnologie Dresden hatten in die Niemeyer Sphere eingeladen. Die futuristische weiße Kugel an einem traditionellen Industriebau aus Backstein hat der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer entworfen. Es war sein letztes Werk – mit 102 Jahren. Den Anstoß dazu gab der Besitzer des Kranbauers Kirow Ludwig Koehne. Das weltmarktführende Unternehmen für Eisenbahnkräne arbeitet ebenso auf dem Gelände wie der Stadt- und Straßenbahnbauer HeiterBlick. Dessen Vertriebsleiter Jan Erning informierte bei Vortrag und Werksführung über aktuelle Projekte des Unternehmens. Gegenwärtig fertigen die rund 150 Mitarbeiter u. a. Straßenbahnen für Bielefeld, Dortmund und Würzburg. Darüber hinaus entsteht bei HeiterBlick die „sächsische Plattform“ – neue Straßenbahnen für Leipzig, Görlitz und Zwickau. Außerdem arbeitet der Schienenfahrzeughersteller an der ersten europäischen Wasserstoff-Tram.

Transformation zum mobilen Lebensraum

Wie sich der Mobilitätwandel auf Fahrzeuginnenräume auswirkt, thematisierte der Geschäftsführer der Welp Holding und der IndiKar GmbH Wilkau-Haßlau, Ronald Gerschewski. Je mehr Aufgaben der Fahrer an automatisierte Systeme abgeben kann, umso wichtiger wird die Transformation des Innenraums zum mobilen Lebensraum, zum zweiten Zuhause. Neue Materialien wie veganes Leder oder nachwachsende Rohstoffe bedienen den Trend zu Leichtbau und Nachhaltigkeit. Assistenzsysteme gewähren mehr Sicherheit. Entwicklungen wie 3D-verformbare Folien mit integrierten Funktionen sowie große Displays verkörpern intelligente Bedienlösungen. Das Fahrzeug wird zu einem Begleiter wie das Smart Phone. Gerade auch bei Car Sharing und weiteren Formen der geteilten Mobilität ermöglichen digitale Technologien individuelle Anpassungen.

Einen besonders aktuellen Aspekt für Innenräume von Fahrzeugen und Gebäuden beleuchtete Erich Siebein, Leiter Entwicklung und Qualität der CleanTec-Lighting GmbH Leisnig. Das Unternehmen hat eine permanente Luftentkeimung mittels UVC-Licht entwickelt, die vor Viren, Sporen und Pollen schützt. Das geschlossene System lässt sich u. a. in Sitzschalen integrieren. Angewendet wird es bereits für die Ausstattung von Polizei-Mannschaftswagen und Rettungsfahrzeugen. Im ÖPNV könne das System gut zum Gesundheitsschutz beitragen, verwies Siebein auf ein weiteres großes Einsatzfeld.

Neue Interieur-Effekte mit 3D-Druck

Die Potenziale des industriellen 3D-Drucks für verschiedene Mobilitätsanwendungen stellte Martin Hirschfeld vom Leipziger Dienstleister Rapidobject vor. Die Technologie punktet mit hoher Flexibilität im Design, Bauteilintegration und einer nahezu werkzeuglosen Fertigung. Der Fachmann für Qualitätsmanagement und Informationssicherheit präsentierte u. a. eine Abdeckung für den Fahrzeug-Fußbereich, die dank 3D-Druck eine Lederstruktur erhalten hat.

„GreenTec meets HighTec“ lautete das Vortragsthema von David Riedrich. Der Geschäftsführer des Luftfahrtzulieferers PMG Wilsdruff berichtete über den Weg des Präzisionsteilefertigers zur CO2-neutralen Produktion. Der Strom für die Zerspan- und alle weiteren Prozesse kommt von einer 6.000 Quadratmeter großen PV-Anlage auf dem Firmengelände. Der Fuhrpark ist elektrifiziert. Alles in allem spart das Unternehmen jährlich 450 Tonnen CO2.

Camper mit innovativem Ausbausystem

Um Sparen ohne Verzicht auf den persönlichen Komfort dreht sich das Geschäft bei Campeleon Dresden. Mit einem innovativen Ausbausystem denken die Firmenakteure das Reisemobil neu. Handelsübliche Kastenwagen lassen sich auf diese Weise sehr flexibel individuell ausstatten – bis hin zur „Pop-up“-Toilette. Linda Geißler, Produktentwicklerin und Mitgründerin des Unternehmens, stellte das Konzept an einem Fahrzeugbeispiel vor.

Linda Geißler von Campeleon stellte das innovative Ausbausystem für Reisemobile vor. Foto: Ina Reichel

Einsatzmöglichkeiten von kohlenstoffbasierten Materialien in Schienenfahrzeugen stellte Dr. Albert Langkamp vom Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik der TU Dresden vor. So bieten u. a. lignienbasierte Kohlenstofffasern oder Polyagrylnitril aus Algen als Ausgangsstoff für Hochleistungs-Carbonfasern Chancen, CO2 zu binden und zum Klimaschutz beizutragen. Allerdings sind auf diesem Gebiet noch viele Fragen, u. a. zu Aufwand und Nutzen, zu klären, räumte der Wissenschaftler ein. In einem Projekt arbeiten Forscher des Fraunhofer IWM und der Leichtbau-Zentrum Sachsen GmbH an solchen Aufgabenstellungen.

Holz kann mehr als „Holzklasse“

Dass Holz mehr als „Holzklasse“ kann – so die Bezeichnung für einfache Sitzbänke in alten Zügen -, verdeutlichte Aaron Schelter von Danzer Deutschland aus Kesselsdorf bei Dresden. Das Unternehmen produziert dort u. a. 3D-geformte Furniere, aus denen beispielsweise ergonomisch geformte Sitzschalen für Busse und Bahnen entstehen oder mit denen bisher über 70 Showcars ausgestattet wurden. Metalleinleger im geformten Holz, Durchleuchtungen für Anzeigeelemente oder das Einbringen von Lichtpunkten für Displays sind nur einige der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten im Interieur.

Wie mineralische Rohstoffe durch Verwendung nachwachsender Materialien substituiert werden können, zeigte Björn Rülke, Geschäftsführer der Rülke GmbH Eppendorf, am Beispiel des „Bambulators“. Dahinter verbirgt sich ein Rollator, für dessen Herstellung Bambusverbundwerkstoffe verwendet werden. Die Projektpartner sind dabei, diese leichte und umweltfreundliche Variante, die ebenfalls Teil der Mobilität ist, marktfähig zu gestalten.

Recht auf Vertragsanpassung ist keine Bittstellerei

Neben vorwiegend technischen Fragestellungen greift das Interdisziplinäre Fahrzeugkolloquium immer auch ein weiter übergreifendes Thema auf. Dr. Axel Schober von der gleichnamigen Dresdner Rechtsanwaltskanzlei informierte zu aktuellen Lieferkettenproblemen aus juristischer Sicht. Er zeigt insbesondere auf, dass Anpassungen Vertragsbestandteil sein sollten und es legitim ist, diesen Anspruch geltend zu machen. So sei das Verlangen höherer Preise aufgrund der aktuellen Situation keine Bittstellerei.

In der Kugel. Dr. André Günther von der WFS Wirtschaftsförderung Sachsen begrüßt die Teilnehmer.
Foto: Ina Reichel

Zum Abschluss gab Dr. André Günther von der Wirtschaftsförderung Sachsen einen Ausblick auf das 7. Interdisziplinäre Fahrzeugkolloquium. Es soll im Juni 2023 beim Reisemobil-Hersteller Capron in Neustadt stattfinden.

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